Der YouTube Sucht entkommen oder: Mein Traum wird wahr – ein Nachmittag in der Bibliothek
- littlemindwood
- 15. März
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 20. Juli
Vor einiger Zeit bemerkte ich, wie ich bei jedem Besuch in der städtischen Bücherei neidisch auf die Personen schaute, welche dort in ihre Arbeit vertieft in den Sitznischen am Fenster saßen. Da waren vor allem Schüler jeden Geschlechts, welche in kleinen Gruppen an den Tischen saßen und sich flüsternd über Fremdsprachen, Naturwissenschaften und Privatangelegenheiten unterhielten. Diese kleinen Gespräche, gemischt mit den Schritten der Besucher und dem leisen Stimmengewirr aus dem Stockwerk über uns – eine Kinderbücherei mit Vorleseecke – sorgten für eine unfassbar angenehme Atmosphäre.
Ich hatte mich in der Unibücherei immer als Fremdkörper empfunden und nicht so wirklich gern Zeit dort verbracht. Zumal ich dort auch alles in einem harten Plastikkörbchen transportieren musste, von der schlechten Luft schnell Kopfschmerzen bekam und mich von den harten Augen der Angestellten schnell beobachtet fühlte.
Obwohl ich meine Stadtbücherei direkt beim ersten Besuch ins Herz geschlossen hatte, setzte ich mein Vorhaben, hier eine Runde zu arbeiten und die Räumlichkeiten zu genießen, einfach nicht um.
Der Grund dafür ist mir fast peinlich, aber tatsächlich hatte sich im letzten Jahrzehnt meines Lebens mein Konsum an Videos so gesteigert, dass ich nahezu jede freie Sekunde damit verbrachte, anderen Menschen bei ihrem Leben zuzusehen. Ich kochte kaum selbst, sah aber anderen zu, welche Rezeptideen sie umsetzten. Ich las und spielte immer weniger, während ich die passenden Rezensionen eifrig über YouTube verfolgte. Ich rollte meine Yogamatte seltener aus, aber wenn jemand eine neue Matte vorstellte oder seinen achtsamen Sonntag filmte, war ich mit dabei. Mir kam es vor, als hätte ich keine Wahl, schließlich waren da so viele tolle Ideen, Menschen und Inspirationen! Es kam mir normal vor, meinen Lebensstil und meinen Geschmack an dem auszurichten, was ich auf dem Bildschirm sah, anstatt meine Bedürfnisse als Wegweiser zu nutzen. Für mein Konsumverhalten war die Einführung von YouTube-Shorts wie ein Katalysator. Nun entdeckte ich noch mehr Inhalte, die ich sehen musste. Fitnessinfluencer, Vintagegirls, Introvertierte, eine Keksartistin, Bastelfreudige und humorvolle Kurzclips wurden zu etwas, was mich unheimlich ansprach. Dabei waren die Inhalte selten bahnbrechend und bei vielen sogenannten Trends dachte ich mir entweder „Das mache ich schon seit Jahren so, aber früher war es halt uncool.“ oder „Wie kann man sowas nur wirklich gut finden?“
Jeder YouTube-Suchti kennt den Endpunkt, wenn nahezu alle tollen und neuen Videos gesehen worden und noch ungefähr 1200 Tabs mit Videos, die man ja auch noch unbedingt schauen will, offen sind. Dann werden diese auf die Playlist für „Später ansehen“ verschoben (Gibt es jemanden, der die Videos darauf wirklich anschaut?). An diesem Punkt klappt man nicht etwas den Laptop zu, sondern stattdessen werden mit trockenen Augen und leichten Kopfschmerzen die drei magischen Worte in die Suchzeile eingegeben:
„Youtube Sucht Detox“
Viele Selbstoptimierende aber auch der ein oder andere Star der Szene haben dazu Videos gemacht. Noch mehr Treffer gibt es, wenn man Insta oder TikTok eingibt, aber die beiden Apps habe ich nicht und halte mich dadurch für einen echten Glückspilz! Jedenfalls gibt es dann verschiedene Herangehensweisen: „Wie Du Deine Handysucht loswirst“ oder „Süchtig nach Dopamin“ oder „Offline ist der neue Luxus“ oder …. Naja, jedenfalls ist dann noch der ein oder andere Tab mehr offen und wenn mein Laptop nicht so alt wäre und so auch trotz Stromversorgung nach sechs Stunden den Geist aufgibt, dann würde ich wohl heute noch dasitzen und all diese Videos schauen. Diese sind übrigens ähnlich aufgebaut wie jedes Fitness- und Diätvideo. Der geläuterte Held oder die mutige Individualistin sprechen von ihrer sinngebenden Reise in das Land der veränderten Verhaltensweisen. Über die Vorteile diese Veränderung sprechen sie dann und untermalen sie mit achtsamer Musik und Aufnahmen von Milchschaum in selbstgetöpferten Kaffeetassen. Diese Videos laden sie dann auf YouTube hoch. Merkste selbst, oder?
Am Aschermittwoch wache ich entnervt auf und beschließe, mein YouTube zu fasten. Ich darf Filme schauen und auch Bastelvideos, da diese nie dazu führen, dass ich stundenlang am Bildschirm klebe. Es gibt keine YouTube-Shorts mehr und mit ihnen verzichte ich auch auf die ganzen Abos, die mir immer und immer wieder so viel Aufregung und Freude geschenkt haben. Am vierten Tag ist das Nachdenken über YouTube dann auch soweit verschwunden. Stattdessen bemerke ich, wie ich an meinem freien Tag einfach mal vor mich herumliege und im wahrsten Sinne des Wortes nichts tue. Mein Kopf haut immer noch viele Gedanken raus, aber irgendwie nicht mehr so, als wären mehrspurige Autobahnen in meinem Gehirn, sondern eher so wie eine Pferdekutsche auf dem Weg nach Schloss Dorincourt, um zum kleinen Lord zu fahren: „Schneller Mann, das ist doch kein Trauerzug!“
Mich macht es sehr betroffen, zu merken, wie viel ausgeglichener, zufriedener und aktiver ich nach nur wenigen Tagen bin. Ich spüre wieder Selbstwirksamkeit, Stolz und Lebensfreude und plane Aktivitäten nicht nur, sondern erlebe sie wirklich.
Heute, an einem sonnigen und kalten Tag im März, sitze ich nun in einer dieser Sitznischen der Bücherei. Das Polster ist überraschend bequem und weich, hinter mir üben zwei Mädchen Französisch und vor mir ist ein junger Mann mit Kopfhörern in seine Recherche vertieft. Ich sitze mitten drin und spüre, wie diese unvergleichliche Atmosphäre hier mein Herz mit Frieden füllt und jeder Atemzug sich leichter und unbeschwerter anfühlt. Ich kann hier mein Wochenende beginnen und in aller Ruhe meine Aufgaben ordnen, Texte schreiben oder korrigieren und mich dabei entspannen. Bedauernd schaue ich auf die Steckdosen neben mir, denn ich habe mein Ladekabel nicht dabei. Sonst würde ich wohl bis zur Schließung um 21 Uhr bleiben!
Mein unfreiwilliges Gehen wird allerdings dadurch getröstet, dass neben mir mein riesiger Lieblingsstoffbeutel liegt. In ihn passen – je nach Größe – 15 Bücher. Genug also, um sich vom Abschied der Bücherei zu trösten. Und wer weiß, vielleicht schaffe ich es ja auch an anderen freien Nachmittagen hier her und die wunderbare Stimmung in mir aufzunehmen – auch nach der Fastenzeit.





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